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Osmanische Fahrkünste und salziger Käse

Iran, 06.08.2019

Mit der Türkei beginnt eine neue Welt. Eine Welt, in der nicht nur das Tempolimit überschritten wird, sondern eine Welt, in der Verkehrsregeln nur noch grobe Richtlinien sind. Das merkt man daran, dass die Autos scheinbar keine Blinker mehr verbaut haben, konstant über ausgezogene Linien fahren und das Innerorts-Schild als Einladung zum Überholen verstehen.

An diesen Regelübertretungen ist der Staat aber nicht ganz unschuldig. Polizei- und Radarkontrollen sind schon von weitem zu erkennen. Diese werden sogar mit einem Pannendreieck oder anderen Warnschildern angekündigt. Beim Anblick eines solchen Zeichens gilt es nur noch, Ausschau nach dem in die entgegengesetzte Richtung blickenden Streifenwagen oder PKW zu halten und vor diesem zu verlangsamen. Türkische Fahrer drücken gerne schon auf Höhe des Streifenwagens wieder auf die Tube, denn der periphere Blick der Polizisten scheint nicht besonders gross.

Bei grossen Polizeikontrollen scheinen sich die Beamten noch weniger für Geschwindigkeiten zu interessieren, denn auch wenn darum gebeten wird, vor der Kontrolle auf 30 zu verlangsamen, gönnt sich der Türke schonmal einen 60er innerorts. Aber genug vom Verkehr. Erst einmal der Reihe nach.

Die Türkei ist wunderschön: Geschichtsträchtige Bauten, atemberaubende Landschaften, zahlreiche Sehenswürdigkeiten und freundliche Leute. Wir haben Pläne geschmiedet, einen grossen Bogen zum Süden des Landes hin zu fahren und Troja, Izmir und Kappadokien zu besuchen. In Bulgarien hatten wir es uns aber spontan anders überlegt. Die Schwarzmeerküste sollte es sein. Unser erster Stopp nach dem Bosporus hiess Şile, ein kleiner Ort an der Küste, der so ziemlich wie jeder andere Ort an einer warmen Küste daherkommt. Fischrestaurants mit Terrasse, Strand und wild durcheinandersprechende Menschen. Nur mit dem Unterschied, dass hier offensichtlich wenig bis gar keine englisch- oder deutschsprachigen Touristen herkommen.

Da wir uns noch nicht so wirklich an den türkischen Verkehr gewöhnt hatten, blieben wir etwas ausserhalb im Hotel Uçar Royal. Hier stiessen wir zum ersten Mal bereits an der Rezeption auf Sprachbarrieren. Mit Hilfe von Google Translate und einigen Handbewegungen erhielten wir schliesslich das Wifi-Passwort und die Erlaubnis, Wäsche zu Waschen. Nicht unweit von unserem Zimmer haben unsere findigen Augen nämlich Waschmaschinen entdeckt.

Zunächst wollte aber unser Hunger gestillt werden. Mit dem Auto ging es auf den einzigen Parkplatz, den wir vertrauenswürdig fanden: den eines anderen Restaurants. Von unserer Gaststätte aus sahen wir aber hervorragend auf die Terrasse der besagten Wirtschaft, auf der sich die süssesten Babykätzchen der Türkei tummelten. Katzen sind in der Türkei allgegenwertig. Ihre süsse Art lässt einen gerne mal vergessen, dass sie alle von Tollwut befallene Bestien sein könnten.

Zu unserer Überraschung konnte die Tochter des Wirts sogar ein bisschen Englisch. Was sie allerdings nur dazu benutzte, um uns mitzuteilen, dass ihr Vater ein Trinkgeld erwartet. Und das, obwohl der Dessert eine Ewigkeit brauchte. Offenbar hatten wir ihn aber schlussendlich genügend entlöhnt, denn die Serviertruppe versammelte sich kollektiv zu unserem Abschied und beteuerte ihre Hoffnung auf unsere baldige Wiederkehr. Leider hatte das andere Restaurant in der Zwischenzeit gemerkt, dass ihr Parkfeld als Abstellplatz für unseren Personenwagen missbraucht wurde und knöpfte uns auch noch saftiges Trinkgeld ab.

Wir fuhren am nächsten Tag (meist) brav, wurden aber doch einmal von der Staatsgewalt zur Seite gewunken. Der Polizist verlangte unsere Pässe und den Führerausweis. Nach einer kurzen Beratung mit einer jungen Polizistin (wahrscheinlich eine Lernende, der gerade beigebracht wurde, wie man Ausländer kontrolliert) durften wir weiterfahren. Dass Fahrzeugkontrollen nicht immer so glimpflich ablaufen, erfuhren wir erst später über den WhatsApp-Chat der Mongol-Rally: Ein Team wurde aus dem Auto befohlen und von den türkischen Polizisten auf die Motorhaube gedrückt, weil diese nach einem anderen Auto mit den Mongol-Rally-Stickern fahndeten (wieso, wissen wir nicht). Zum Glück waren wir zu diesem Zeitpunkt schon ausser Landes.

Bis zur iranischen Grenze machten wir aber noch einige Stopps an der Schwarzmeerküste. Nächster Halt: Amasra. Eine sehr beliebte Tourismusregion, offenbar aber nicht für westliche Touristen. Ein grosses Minarett ragt über dem Strand auf. Viele Frauen tragen Kopftuch oder sitzen gar im Burkini am Strand. Die Riviera-Horror-Vision eines jeden SVP-Politikers. Der Ort selbst ist sehr vom Tourismus geprägt und bietet deshalb viele Verpflegungsmöglichkeiten und ein sehr charmantes kleines Hotel unweit vom Strand. Das Dorf liegt auf einer Landzunge, die sich ins Meer hinaus erstreckt, wodurch es zwei Strände besitzt. Auf jeder Seite einen. Vom Holzhaus unseres Hotels führte eine Strasse hinab zum Ost-Strand, an der alte Mütterchen frisch geerntete Haselnüsse feilboten. Auf der anderen Seite gibt es zahlreiche Cafés und ein Häuschen (inklusive Statue), das dem türkischen Rockstar Barış Akarsu gewidmet ist. Wir bestiegen einen nahegelegenen Hügel, assen frischen Lachs und Schellfisch aus dem Schwarzen Meer und ein Teil unserer Zweiertruppe schwamm selbst noch eine Runde darin. Fazit: Hier lässt es sich aushalten.

Aber wir mussten weiter. Es folgte eine lange Fahrt nach Bulancak. An einem unscheinbaren Küstenort machten wir Halt, um uns ein Mittagessen zu gönnen. Nachdem wir mit Händen und Füssen versucht hatten, den Kellner dazu zu bringen, uns irgendwelches Essen zu servieren, verschwand er in der Küche. Als er mit seinen Kumpanen wiedererschien, tischten sie uns geschätzt 15 Schalen auf, alle gefüllt mit Spezialitäten der Region. Oliven, Käse, Konfitüre, Tomaten, Joghurt und ein vorzüglich mundendes Eier-Tomaten-Gemisch namens Menemen. Serviert mit Brot und der Aussicht auf das Meer. Rundum zufrieden fuhren wir weiter und erreichten in den Abendstunden das wohl freundlichste Hotel an einer Autobahn, das jemals existiert hat. Obwohl sie kein bis wenig Englisch beherrschten, boten sie uns gleich beim Eintreten Tee an und hatten im Zimmer eine Früchteschale bereitgelegt. Jedes Mal, wenn wir an der Lobby vorbeigingen, nickten sie uns freundlich zu. Worauf wir jeweils mit vollem Selbstbewusstsein zurücknickten, verlegen lächelten und etwas Unverständliches murmelten.

Das Kloster Sumela liegt idyllisch am Hang und ein schöner Weg führt durch einen Wald hoch in die Felsen, wo es von griechisch-orthodoxen Christen gebaut wurde. Die Griechen sind weg, an ihre Stelle sind Touristen in rohen Mengen getreten. Bereits einige hundert Meter vor Beginn des Wanderweges stauen sich nun Autos und wildes Gehupe geht los. Wir stellten daher unser Auto am Rand der Strasse ab und gingen zu Fuss. Am Ende der Strasse boten Händler Glace, Maiskolben und Pommes Chips am Stil an. Oben angekommen bezahlten wir erstmal die Eintrittsgebühr, merkten aber dann, dass das gesamte Kloster renoviert wird und nur der Eingang betreten werden konnte. Das schien den Touristen-Massen jedoch keinen Abbruch zu tun. Etwas abgelegen am Hang fanden wir im Wald dann aber auch noch ein paar einsame Ruinen. Deren idyllische Schönheit wurde von keiner Baustelle getrübt.

Den Abend verbrachten wir in Uzungölu. Dieser Ort ist ähnlich komisch wie sein Name. Zum Glück lag unser Hotel etwas oberhalb des Dorfes, sodass wir etwas früher aus der Stau-verstopften Hauptstrasse ausbrechen konnten. Der Ort selbst war immer noch voller Autos, schlechter Luft, Frauen in Niqabs und hatte eine sterile Chilbi-Atmosphäre. Eine Mischung, die so gar nicht in die idyllische Berglandschaft mit Bergsee und alten Kuhstallungen passen will. Ein paar Touristen aus Aserbaijan sprachen uns an und wunderten sich, wieso wir hierhergekommen waren. «Ihr in der Schweiz habt doch genug Berge», sagten sie. Und für einen kurzen Moment fragten wir uns das ebenfalls. Allerdings waren wir nun auch um eine spezielle Erfahrung reicher.

Je weiter ostwärts wir gelangten, desto öfter blickte Recep Tayyip Erdogans ernstes Gesicht auf uns herab. Hier im Osten, weit weg von der Hauptstadt, muss er wohl besonders penetrant darauf aufmerksam machen, dass er der Boss ist. Wir bogen noch einmal in ein Bergtal ein, um eine Burg zu besichtigen und daneben zu übernachten. Entgegen unseren Befürchtungen war die Burg Zil Kale noch nicht touristisch ausgeschlachtet und wir kamen ohne Stau zum Zil (haha Zil, wie Ziel, checksch?). Über die Burg ist allerdings auch so gut wie nichts bekannt. Auf den Informationstafeln stehen vor allem die Masse der einzelnen Räume und Vermutungen über deren Verwendungszweck. Im Grossen und Ganzen sollen hier Karawanen auf dem Weg nach Norden genächtigt haben. Ihrer abgelegenen Lage aber verdankt die Burg vielleicht auch die Unversehrtheit, die sie zu einem fantastischen Anblick macht.

Als wir wegfuhren, sahen wir, wie sich gerade eine Hochzeitsgesellschaft zu einem Foto-Shooting bereit machte. An dieser Stelle sei eine Warnung ausgesprochen: Hütet euch vor türkischen Hochzeitsgesellschaften an einem Samstag! um Hochzeitsfotos zu schiessen, suchen sie die schönsten Plätze der Gegend heim, und fahren dabei rücksichtslos im Eiltempo von Fotomotiv zu Fotomotiv. Das bemerkten wir, als wir selber auf dem Weg zu einer fotogenen Brücke waren und sie nur haarscharf an uns vorbeischrammten.

Nach der Brücke ging es auf die Suche nach unserem Hotel. Booking.com meinte, dass das Hotel am Ende eines steilen Erdwegs lag, der sich vom Kopfsteinpflaster der Bergstrasse entfernte. Gespannt fuhren wir los und trotzen zu Beginn den argwöhnischen Blicken der lokalen Bewohner, die uns hinterhersahen. Zwei Autos kamen uns entgegen. Der eine rief uns etwas auf Türkisch zu. Der Zweite versuchte uns verständlich zu machen, dass es da oben kein Hotel gebe. Gekonnt ignorierten wir beide, denn wir wollten es mit unseren eigenen Augen sehen. Am Ende der Strasse sassen ein paar ältere Männer an provisorisch aufgestellten Plastiktischen und sahen uns verwundert an. Auf unsere Frage nach dem Hotel, baten sie uns gestikulierend, uns zu ihnen zu setzen. Währenddessen riefen sie zwischen den Berghütten nach einem Russen, der angeblich Englisch sprechen konnte. In der Zwischenzeit gaben sie uns mit Schafskäse gefülltes Pita-Brot zu essen. Bei dieser penetranten Freundlichkeit fiel es schwer abzulehnen und so sassen wir schweigend mit ihnen, bis der Russe gefunden worden war. Er stellte sich vor und setzte uns darüber in Kenntnis, dass dieses Essen auf der Strasse kein Fest, sondern der Ausklang einer Beerdigung war. Der essende Teil unserer Zweiergruppe verschluckte sich fast am Pita-Brot und wir drückten eifrig unsere Entschuldigung und unser Beileid aus. Der Russe wollte aber wissen, wo wir eigentlich hinfahren würden. Also erzählten wir ihm von der Mongol Rally und unserem Ziel die Mongolei mit unserem bescheidenen Fiat Panda zu erreichen. Nach dieser Geschichte drückten uns die Gastgeber ein weiteres Pita-Brot in die Hände und der Russe meinte auf unsere Einwände hin: «Bitte nehmt es, ihr braucht es auf eurer langen Fahrt». Sogar in traurigen Zeiten sind die Menschen hier so gastfreundlich wie es nur geht. Um das Geschehene zu verarbeiten, fuhren wir erstmal wieder an die Schwarzmeerküste. Nach Pazar, wo uns eine Party-Gesellschaft mit singendem Dudelsackspieler bis Mitternacht wachhält.

Auf unserer letzten Etappe in der Türkei ging es über einen hohen Bergpass an Erzurum vorbei nach Ağrı. Das hiess natürlich, dass unser Benzinverbrauch erheblich stieg. Bergauf fährt unser geliebter Panda nämlich so schnell wie ein Rollstuhllift in Zeitlupe. Was dabei folgt sind einige Mini-Fahr-Games.

Spiel Nummer 1: Versuche mit einem vollbepackten Fiat Panda einen Hang herauf zu kommen, ohne in den zweiten Gang zu schalten. Spiel Nummer 2: Versuche den unbeleuchteten Arbeitern in einem sehr langen Tunnel mit unzureichender Beleuchtung auszuweichen. Spiel Nummer 3: Versuche wegen der Hitze im Auto nicht zu schmelzen.

Denn gegen Ağrı wurde es heisser. Nicht nur temperaturmässig, auch militärisch. Mehrmals überholten wir schwere Militärgeschütze und es wurde uns ein wenig mulmig zu mute. Erst recht, als ein gepanzertes Fahrzeug mitten auf der Autobahn anfing, den Geschützturm zu drehen. Aber wir kamen schliesslich doch unversehrt nach Ağrı. In der Nähe des abendlichen Restaurants (Pizza Pizza, sehr italienisch) gab es nämlich eine kleine Militärbasis, in der sich die meisten Monstermaschinen zum Feierabend hin verkriechen.

Unser Hotel selbst wirkte aber auch ein bisschen wie eine Unterkunft für Auftragskiller mit schummrigem Ambiente. Statt Hitman trafen wir jedoch auf das Mongol-Rally-Team «Llamas in Pijamas», mit welchem wir uns am nächsten Tag verabredeten, um zusammen die iranische Grenze zu überqueren. Das ist unser erster Grenzübergang in Asien und wir wussten nicht wirklich, was für ein Chaos uns da erwarten könnte. Am Morgen stärkten wir unsere Nerven zunächst mit dem salzigsten Käse der Türkei und entspannten uns mental, indem wir einen der 15 Fundorte der Arche Noah neben dem majestätischen Berg Ararat besuchten (die Attraktion waren Erdformationen, die entfernt wie ein Boot aussehen). Dann gab es kein Zurück mehr.

Mach dich bereit Iran, wir kommen.